Donnerstag, 18. Juni 2009

Der Artesische Brunnen

Der artesische Brunnen

In letzter Zeit lasse ich meine Gedanken wieder einmal am Tag zurück in die Kindheit fliegen. Erinnern ist wohltuend, manchmal auch schmerzhaft. Beim Erinnern stelle ich mir immer einen Baum vor. So etwas wie einen persönlichen Lebensbaum. Die Zweige, das sind die Stadien meiner Lebensreise, die Blätter die daran hängen sind die Menschen, die mir im Lauf meines Lebens begegneten der Stamm das bin ich, meine Persönlichkeit, mein ganzheitliches Wesen, nach dem ich immer auf der Suche bin, mein Dasein in dieser Welt insgesamt. Die Wurzeln das sind die Erfahrungen, das was mich in meinem Leben geprägt hat, jenes aus dem ich meine Lebenssäfte sauge. Die Wurzel, ja, das ist die Geschichte aus der ich hervorgegangen bin. Die Krone meines Lebensbaumes, ist wohl das Ziel meiner persönlichen Lebensgeschichte. Hier ist mein Geist zu Hause der gern in luftiger Höhe verweilt. Sich die Zeit nehmen und einmal am Tag in seine Vergangenheit zu reisen, ist auch ein Organon, ein geistiges Werkzeug, im Sinne Aristoteles. Wenn ich in die Vergangenheit reise, hat das etwas fließendes, an sich, ja mir will scheinen, als stehe, besser wachse mein persönlicher Lebensbaum, neben einem plätschernden Brunnen, mit dessen kühlen Wassern ich meditativ versinke.
Es ist das Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, der eigenen Erfahrungen, also des eigenen gelebten Lebens, was an solcher Erinnerungsarbeit reizt. Marcel Proust beschrieb einmal das Bilde des "artesischen Brunnens", das er während seiner lebenslange Suche "nach der verlorenen Zeit" in sich trug:..."man kann fast sagen, dass es mit den Werken, wie mit dem artesischen Brunnen ist, nämlich dass sie sich um so höher erheben, je tiefer die Grube ist", schrieb Proust. In die Tiefe des Brunnens hinabsteigen und noch einmal das Erleben, was eben nicht nur immer Freude war, sondern auch schmerzhafte Erinnerung hat, gehört zu einer kritischen Erinnerungsarbeit. Mit dem Geist auf Reisen gehen ist immer auch eine philosophische Arbeit, vordergründig natürlich eine psychologisch – therapeutische. Ich achte bei meiner Erinnerungsarbeit auch darauf dass ich nicht ins Phantasieren gerade, weil ich meine Erinnerungsarbeit möglichst realistisch wiedergeben möchte. Das sich dabei immer wieder mal die Utopie und die Romantik einschleicht, liegt weniger im Sinn der Sache sondern ist meiner Eigenart und meinem Wesen inhärent.
Seit frühester Kindheit habe ich versucht meine Träume mit meiner Kindheit zu verbinden, als Kind tut man so etwas Unbewusst. Genau diese Verbindung ist die Bindung an meine Vergangenheit und die widerspiegelt sich unbewusst immer in unserer Gegenwart. Es ist das Verbundensein mit der Geschichte, mit der persönlichen als auch mit der historischen. Bei einer solchen Erinnerungsarbeit, bemerkt man alsbald das es im menschlichen Leben um drei Fragen geht: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Dies sind die Fragen der menschlichen Existenz überhaupt. Vor, seit und nach Sokrates konnten diese Fragen niemals zufrieden beantwortet werden. Und auch die Zukunft der geistlichen Entwicklung des Menschen wird diese nicht beantworten. Dennoch gehen die Philosophen aller Zeiten immer wieder auf die Suche nach ihr. Warum? Weil es die einzigen Fragen sind, die uns im letzten Grund auch wirklich interessieren. Der Mensch der sein leben nur der Ökonomie, der Zerstreuung und Ablenkung widmet, ist der "Robotische Mensch" der den Sinn seines Daseins verfehlt hat. Diese drei Fragen sind ja die "Sinnfragen" überhaupt. In unserer tiefsten, selbstvergessenen Kindheit, haben wir uns diese Fragen sehr oft in einer kindlich – märchenhaften Art gestellt. Heute haben viele vergessen das der artesische Brunnen in jedem plätschert. Je tiefer wir aus diesem Brunnen Schöpfen, desto weiter entfernen wir uns von den Schmutzwässern einer krankhaften Zivilisation. Haben wir es geschafft, die Quelle die den artesischen Brunnen speist zu finden, wie auch Proust ihn fand, so haben wir einige unserer ersten Kindheitserfahrungen wiederentdeckt und von hier aus sollten wir weiterreisen.
hukwa