Als ich noch ein kleiner Junge war, erzählte mir
meine Großmutter jedes Jahr zum Sankt Martinstag ihre Martinsgeschichte So wie
sie diese Erzählung schon von ihrer Großmutter gehört hatte. Hier ist diese
Geschichte:
Einst lief ein alter Bettler fröstelnd durch die
eiskalte Novembernacht. Wie Diamanten blinkten am Himmel die Sterne, und der
unruhige Vollmond wanderte zwischen ihnen. Wie ein kosmisches Gemälde
flackerten die Sterne im ganzen Universum. Der Landstreicher war müde, desto
mehr freute er sich, als er plötzlich vor einer halbzerfallenen, uralten
Scheune stand. Knarrend drückte er die Tür zur Scheune auf. Durch ein Loch im
Dach drang gerade so viel Mondlicht in die morsche Feldhütte, dass er in einer
Ecke, unter einer Futterkrippe eine Lage Heu erkennen konnte. Durchfroren wie
er war, schlüpfte er mit seinem alten, durchlöcherten Mantel unter das Heu, das
ihn ein wenig Wärme schenkte. Es dauerte nicht lange, da schlief der alte,
zerlumpte Landstreicher auch schon ein. Mitten in der Nacht schreckte er auf.
Ihm war, als hätte er eine Stimme gehört.
„Ist hier jemand?", fragte er in die
Dunkelheit hinein. „Zünde mich an!", hörte er mit einem Mal eine Stimme
sagen. „Wer bist du? Wer spricht zu mir?", rief der alte Bettler
ängstlich. „Ich bin die Laterne, die an der Tür hängt. Nimm mich ab und zünde
mich an!". Der Landstreicher kroch aus seinem Heulager und ging zur Tür.
Dort zündete er ein Zündholz an und – tatsächlich! An der klapprigen Tür hing
eine uralte, verstaubte Laterne in der noch ein Kerzenstumpen steckte. Er hielt
das Zündholz durch das zersprungene Glas der alten Laterne, sofort flackerte
ein warmes Kerzenlicht auf und das Innere der alten Scheune wurde ein wenig
erhellt.
„Ach, ist das schön!“, sagte die Laterne. Der
Alte stellte sie auf den Boden, schlüpfte wieder unter sein Heulager und
betrachtete verwundert die uralte Laterne. Eine Lampe die sprechen konnte, so
etwas war ihm in den vielen Jahrzehnten seiner Wanderschaft und Ruhelosigkeit
auch noch nicht passiert.
„Wundere dich nicht!", sagte die Laterne zu
ihm. „Ich bin Martins Laterne!".
„Martins Laterne?", fragte der alte Mann.
„Ja, die Laterne des Heiligen Martin von Tours. Du kennst doch den Heiligen
Martin und seine Geschichte?". „Nun ja, ein wenig", sagte der
Landstreicher beschämt. „Ein wenig?", fragte die Laterne verwundert
zurück, „dann weißt du auch nicht, dass heute die Nacht des Heiligen Martins
ist?". „Nein", kam die Antwort aus dem Heulager. „Dann werde ich sie
dir nun erzählen", meinte die alte Laterne.
Es war jetzt richtig gemütlich geworden in der
zerfallenen Feldscheune. Das Kerzenlicht wärmte tatsächlich mit einem Mal wie
ein kleiner Ofen. Das Heu duftete. Lieblich funkelten Mond und Sterne durch das
halbzerfallene Dach und die Laterne begann die Geschichte des Heiligen Martin
zu erzählen.
„Um das Jahr 317 n. Ch. wurde Martin in einer
Stadt des heutigen Ungarn geboren. Sein Vater war dorthin als römischer
Offizier versetzt worden. Auf Wunsch seines Vaters musste Martin mit 15 Jahren
Soldat werden. Er kam in die kaiserlich berittene Gardetruppe die mit schönen,
weiten Mänteln eingekleidet waren. Als der römische Kaiser junge Soldaten ins
heutige Frankreich schickte, war auch Martin unter ihnen". „Und du warst
auch dabei?", fragte der Landstreicher ungläubig, doch voller Staunen.
„Ja, ich war dabei, ich bin Martins alte Laterne", drang es blechern aus
ihr heraus. „Aber jetzt höre endlich zu!".
Und die Martinslaterne erzählte ihre Geschichte:
„Alles begann in einer kalten Winternacht, die
Tore der kleinen Stadt sollten bald schließen. Nur in ein paar Wirtshäusern
brannten vereinzelt noch Lichter. Dort saßen die Soldaten zusammen. Die
Gesichter der Männer waren rot und erhitzt vom Würfelspiel. Martin hatte sein
Geld beim Spiel verloren.
„Kommt ins Lager Männer", drängte er.
„Morgen müssen wir früh aufstehen!" – Die anderen lachten.
„Hast dein ganzes Geld verloren Martin, und nun
keine Lust mehr zum Spiel!".
Aber dann standen sie auf und zahlten ihre Zeche.
Martin war beliebt bei ihnen. Martin griff mich und wir gingen in die kalte
Nacht hinaus. Es hatte sehr stark und viel geschneit, Martin zog den Kragen
hoch, ihn fror. Sein Pferd wieherte leise und freundlich als er aufstieg. In
den Straßen herrschte tiefe Stille. Langsam ritten wir los. Die anderen waren
schon ein großes Stück voraus.
„Martin!", riefen sie, „komm schneller und
leuchte uns mit deiner Laterne!".
Aber Martins Pferd lief ruhig durch die
verschneiten Straßen. Die anderen hatten das Stadttor schon erreicht, da
blieben sie stehen.
„Martin", johlte einer der Männer „schade,
dass du kein Geld mehr hast! Den letzten Heller hättest du diesem hier geben
können!". Alles lachte, außer Martin und der Trupp setzte sich wieder in
Bewegung.
Martin und ich waren nun auch beim Stadttor
angelangt. Ich leuchtete auf die Straße, und im trüben Licht, konnten wir den
Menschen erkennen der dort saß, in der kalten Nacht nur in Lumpen gehüllt. Er
zitterte vor Kälte. Schnee war in seine Bettelschale gefallen, aber nicht ein
einziger Heller.
Martin sprang vom Pferd und sah den armen Mann
an. „Die andern haben Recht", sagte er.
„Nichts habe ich mehr, alles habe ich
verspielt!". Er war bedrückt, aber plötzlich hellte sich sein Gesicht auf:
„Alles was ich dir geben kann, ist das
hier!".
Er riss sich den schweren roten Mantel den er
anhatte, den einzigen den er besaß, von den Schultern. Mit einem Hieb seines
Schwertes teilte er ihn. Einen Teil legte er dem Bettler um und griff kurz nach
der Schulter des armen Menschen. Dieser reckte den Arm und wollte ihm danken,
aber schon schwang sich Martin auf sein Pferd und ritt davon, den anderen
hinterher die jenseits des Tores warteten.
In dieser Nacht schlief Martin sehr unruhig.
Einmal fuhr er hoch, weil er dachte, er hätte mein Licht nicht gelöscht. Aber
ich lehnte ganz dunkel an der Tür.
Aber es stimmte:
Das Licht in jener Nacht schien besonders hell
und mir kam es so vor, als würde ich den Bettler am Fenster sehen mit Martins
rotem Mantel. Er lächelte Martin zu und um seinen Kopf erschien ein helles
Leuchten.
Von diesem Erlebnis fühlte Martin sich so
angesprochen, dass er den Wunsch hatte, Christ zu werden. Der Bischof von
Amiens taufte Martin. Er war 18 Jahre alt und wollte kein Soldat mehr sein, er
gab dem Kaiser sein Schwert zurück. Bischof Hilarius unterrichtete Martin in
der christlichen Religion. Sie wurden große Freunde.
Als der Bischof der Stadt Tours starb, wollten
die Menschen Martin zum Bischof. Er erschrak darüber, denn er wollte nicht Herr
sondern Diener der Menschen sein. Als Bischof von Tours wurde Martin über
achtzig Jahre alt. Er starb wahrscheinlich an einem 11. November. Seit seinem
Tod besuchen die Menschen sein Grab in der Kathedrale von Tours in
Frankreich."
Als die Laterne ihre Geschichte erzählt hatte, war
auch der Kerzenstummel abgebrannt.
Es wurde dunkel in der zerfallenen Scheune.
Andächtig hatte der Landstreicher der alten Martinslaterne zugehört. Irgendwann
schlief er ein.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, hatte es
geschneit. Sofort dachte er an das Erlebnis der vergangenen Nacht, aber
nirgends konnte er die Laterne finden. Er verließ die Scheune und nahm wieder
sein tägliches unstetes Leben auf. Doch kein Tag sollte von nun an im Leben des
Bettlers vergehen, da er nicht wenigstens einmal an den Heiligen Martin dachte,
den Schutzpatron der Armen und Verachteten.
hukwa