"Nur wirkliche Gefühle besitzen
die Macht, sich auf unbelebte Materie zu übertragen", schrieb
die französische Philosophin Simone Weil. Sie – die Gebürtige
Jüdin, näherte sich in ihrem Leben immer mehr dem Christentum zu.
Aber- sie wollte eine freie, undogmatische Auslegung des christlichen
Glaubens. Sie wusste sehr gut dass wenn sie dem Christentum ein
Existenzrecht zusprach, so musste sie auch die Existenz der Mythen
anerkennen. In ihrer Schrift "Entscheidung zur Distanz",
schreibt sie: "Nichts verbietet die Annahme einer Verbindung
zwischen Melchisedek und den antiken Mysterien. Es besteht eine
Verwandtschaft zwischen dem Brot und Demeter, dem Wein und
Dionysos...Jedenfalls wissen wir nicht, ob es nicht schon vor Jesus
Inkarnationen des Logos gegeben hat und ob nicht Osiris in Ägypten,
Krisna in Indien dazu zählen... Damit das Christentum sich wahrhaft
inkarniere, damit der christliche Geist das ganze Leben durchtränke,
bedarf es zuvor der Anerkennung dessen, das geschichtlich gesehen,
unsere weltliche Kultur ihren Ausgang von einem religiösen Geist
genommen hat, welcher der Zeitrechnung nach zwar vorchristlich,
seinem Wesen nach jedoch christlich war..."
Dies nenne ich eine objektive,
undogmatische, christlich – mythologische Betrachtungsweise der
"Sache Jesu". Sie ist sehr gnostisch, daher kann ich mit
dieser Vorstellung sympathisieren.
Um sich ein Gesamtbild des Menschen
Jesu zu machen, darf man nicht nur die Evangelien als alleiniges
Studium ansehen, man muss auch die gnostischen Texte und die
Apokryphen "befragen".
Mythologie und katholischer Glaube
miteinander zu verbinden, zumindest spirituelle Anklänge
auszudrücken zu versuchen, gelang Tolkien in seinem großartigen
Doppelwerk "das Silmarillon" und "der Herr der Ringe".
In einem Brief bezeichnete Tolkien den "Herr der Ringe"
wörtlich als "durchaus religiöses und katholisches Werk,
zumindest im Rückblick". Zwar sind in der vorchristlich,
heidnischen Welt von "Mittelerde" Gott und Religion nicht
vertreten, doch werden im Spiegel der Sage metaphysische Fragen
aufgeworfen, so auch nach Tod und Unsterblichkeit. Im "Herr der
Ringe" finden wir einige christliche Motive vor, vor allem
katholische, wie das Elbenbrot aus Lorien uns beweist. Es war aus
"Mehl gemacht, dass außen beim Backen leicht braun geworden
war, aber innen die Farbe von Sahne hatte". In der Elbensprache
nennt man dieses Brot "lembas", was "Wegbrot"
oder "Wegzehrung" bedeutet. In der Hochelbensprache heißt
das Gebäck "Lebensbrot" (coimas). Dem Katholiken sind
beide Namen vertraut als Bezeichnung, für die Kommunion. In seinem
Aufsatz "über das Märchen", schreibt Tolkien: "Das
Evangelium hat die Legenden nicht abgeschafft, es hat sie geheiligt".
In diesem Sinne ist Tolkien ein Gnostiker.
Gnosis bedeutet ja nicht anderes als
Erkenntnis, und zwar ist dabei nicht nur ein gedankliches Erfassen im
Sinne einer Erkenntnistheorie gemeint, sondern darüber hinaus ein
Schauen und ein Einswerden des Erkennenden mit dem Gegenstand der
Erkenntnis. Dieser Gegenstand der Erkenntnis ist Gott, und die
Erkenntnis Gottes bedeutet zugleich ein Erkennen der von Gott
ausgehenden oder mit Gott identischen Zwecke und Gesetze der Welt,
der Geschichte und des menschlichen Lebens. Die Gnostiker bedienten
sich einst der zusammengebrochenen, sie umgebenden heidnischen Welt,
sie fügten den Trümmern des Heidentums, ihre eigene Versionen des
Christentums bei.
Die Gnosis als Sammlung verschiedener
Schriften ist somit ein theologisch-philosophisch eklektisches
System. In der Gnosis verbinden sich Mythologie und christliche
Legende. Das Christentum ist nur eine Folgereligion aus weitaus
älteren Religionen und Mythologien. Ein
"Gnostischer Christus" ist
heute vielen Menschen sympathischer als ein dogmatisch –
kirchlicher Christus; denn Jesus steht in einer langen Reihe von
Gestalten, in denen sich Gott immer wieder zu erkennen gab, z.B. in
Krisna und Apollo.
Zu Beginn des Hebräerbriefes heißt
es: "Zu verschiedenen Zeiten und auf mannigfache Weisen hat Gott
von altershehr durch die Propheten zu den Vätern gesprochen: am Ende
dieser Tage sprach er zu uns durch seinen Sohn." Wenn man also
in einer gnostischen Auslegung auch die großen Gestalten des Mythos
zu den Propheten zählt, die den Völkern Weisungen gegeben haben,
dann drang auch durch sie Gottes Stimme und Herakles war dann nichts
anderes als ein Vorgänger Jesus. Nach der Kreuzigung stieg Christus
zur Hölle ab. Diese Phase seiner Mission ist prägfiguriert im Leben
verschiedener Götter, Halbgötter und Helden der Antike. Osiris,
Horus, Isis, Ischtar, Demeter, Herkules, Theseus, Orpheus.
Im Nassenehrpsalm sagt Christus: "Alle
Welten werde ich durchwandern, alle Mysterien aufschließen". Im
mandäischen "Ginza" sagt der Erlöser: "Ich habe alle
Welten und Generationen durchwandert." Der Weise Silvanus
spricht in seinen "Lehren" von den vielen Gestalten, die
Christus bei seinem Abstieg durch die Sphären jeweils der Situation
entsprechend annahm. Den "Pseudo-Klementinen" zufolge,
"durcheilt der wahre Bote, in dem er seine Gestalten mit seinem
Namen ändert, vom Anbeginn der Welt an die Zeitalter, bis seine Zeit
erfüllt ist und er, von Gottes Gnade für seine Taten gesalbt, zur
ewigen Ruhe gelangt".
Hätte eine offizielle Vermählung
zwischen Christus und der Demeter stattgefunden wäre die religiöse
Entwicklung der Menschheit weitaus undogmatischer verlaufen.
hukwa