Samstag, 23. Mai 2020

Die Zeitreisen des Arnold Toynbee

Foto©UteKW

Es gibt keinen Zufall:
und was blindes Ungefähr uns dünkt,
gerade das steigt aus den tiefsten Quellen.
Freidrich von Schiller

Ein Schopenhauer Zitat in Die Welt als Wille und Vorstellung - §54 – lautet:

Vor Allem müssen wir deutlich erkennen, dass die Form der Erscheinung des Willens, also die Form des Lebens oder der Realität, eigentlich nur die GEGENWART ist, nicht Zukunft, noch Vergangenheit: diese sind nur im Begriff, sind nur im Zusammenhange der Erkenntnis da, sofern sie dem Satz vom Grunde folgt. In der Vergangenheit hat kein Mensch gelebt, und in der Zukunft wird nie einer leben; sondern die GEGENWART allein ist die Form alles Lebens, ist aber auch sein sicherer Besitz, der ihm nie entrissen werden kann...Wir können die Zeit einem endlos drehenden Kreise vergleichen: die stets sinkende Hälfte wäre die Vergangenheit, die stets steigende, die Zukunft; oben aber der unteilbare Punkt, der die Tangente berührt, wäre die ausdehnungslose Gegenwart; wie die Tangente nicht mit fortrollt, so auch nicht die Gegenwart, der Berührungspunkt des Objekts, dessen Form die Zeit ist, mit dem Subjekt, das keine Form hat, weil es nicht zum Erkennbaren gehört, sondern Bedingung alles Erkennbaren ist“.

Nach Schopenhauer sind Vergangenheit und Zukunft also nur eine Art Kompass oder Richtschnur um sich in der Zeit zurecht zu finden, um sie zu Deuten. Die Zeit ist das Haupthema innerhalb der Methaphysik.
Die ältesten uns bekannte Aufzeichnungen der Philosophie – die Fragmente – der Vorsokratiker, haben als wesentliches Thema den Zeitbegriff.
Heraklit aus Ephesus (etwa 500 v. Chr.) meinte das „es unmöglich ist zweimal in den selben Fluss hineinzusteigen“ und sagte damit aus dass es keine identische Wiederholung gibt, denn wenn wir ein zweites mal in den Fluss steigen hat die Zeit dafür gesorgt, das schon wieder neues Wasser nach geflossen ist.
Der nah Thales wahrscheinlich älteste bekannte griechische Philosoph Anaximander aus Milet
(610 v. Chr.) hat eine andere Auffassung von Zeit, von der sich Platons kreisförmige Ordnung im Timaios ableiten könnte, Anaximander sagte: „Aus welchen (seienden Dingen) die seienden Dinge ihr Entstehen haben, dorthin findet auch ihr Vergehen statt, wie es in Ordnung ist, denn sie leisten einander Recht und Strafe für das Unrecht, gemäß der Zeitlichen Ordnung“.
Nach Platon (428-348 v. Chr.) sind die Dinge die wir wahrnehmen, nichts anderes als unvollständige Kopien, Spiegelungen von Ideen, die in einer übersinnlichen Welt außerhalb von Raum und Zeit ein selbstständiges, nur durch das reine Denken erfaßbares Dasein führen. Es sind dies die ewigen Muster und Vorbilder, die wir nie vollständig erfassen können, die aber dennoch reale Bedeutung haben.
Über eine übersinnnliche Welt außerhalb von Zeit und Raum berichtet uns kein Geringerer als der große Historiker Arnold Toynbee in seinem zwölfbändigen Werk A Study of History. Toynbee erzählt hier wie ihm die Idee kam, dieses Werk zu schreiben und spricht dabei von dem gefühl der „Wirklichkeit“, das den Historiker manchmal überfällt und ihn auf eine Art „Zeitreise“ gehen lässt:
Der Verfasser vorliegender Studie hatte einmal ein authentisches Erlebnis dieser Art. Es war am 23. Mai 1912, und er saß, in Gedanken versunken, auf der Höhe der Zitadelle von Mistra, wo die steile Mauer des Taygetos-Gebirges den Hotizont im westlichen Quadranten des Kompasses, dem er sich zugewandt, begrenzte und gegenüber, im östlichen Quadranten des Kompasses, das offene Tal von Sparta sich erstreckte, von wo an diesem Morgen sein Weg ihn vorbeigeführt hatte...
Der sinneseindruck, der seine historische Einbildungskraft belebte, war nicht der Klang liturgischer Gesänge; es war der Anblick der Ruinen, an denen vorbei er sich seinen Weg zur Anhöhe hinauf sich gebahnt; und dieser Anblick war schrecklich, denn in dieser zerstörten Sagenstadt war die Zeit stille gestanden seit dem April des jahres 1821, in dem Mistra verwüstet wurde...Eines Aprilmorgens war wie aus heiterem Himmel eine Horde wilder Hochlandbewohner aus dem Mani über sie hergefallen. Ihre Bewohner mussten um ihr Leben laufen, sie wurden auf der Flucht ausgeraubt und erschlagen; ihre verlassenen Häuser wurden geplündert; und verlassen lagen die Ruinen bis zu jenem Tag...“
Es war das „grausame Rätsel menschlicher Torheiten und Verbrechen“ die Toynbee erschreckten aber auch die „absolute Wirklichkeit“ der in seiner Einbildung entstandenen Szenen. Aber das „Mistra-Erlebnis“ war nicht das einzige Erlebnis dieser Art, immer wieder wurde er von historischen Begebenheiten und er hatte dabei das Gefühl anwesend zu sein. Erlebnisse also die ihn über Zeit und Raum hinweg in andere Wirklichkeiten führten. So schreibt er:
Bei jedem dieser...geschilderten Anlässe geriet der Verfassser in eine, wenn auch nur flüchtige Gemeinschaft mit Personen, die an einem bestimmten historischen Ereignis mitgewirkt hatten – und zwar dadurch, dass das Schauspiel unverhofft seine Phantasie zu fesseln begann.
...Bei anderer Gelegenheit jedoch wurde ihm eine noch größere, seltsamere Erfahrung zuteil. Es war in London, an einem Nachmittag nicht lange nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als er sich auf der Südseite der Buckingham Palace Road, auf dem Bürgersteig vor der Victoria Station ausschreitend... nicht in Gemeinschaft mit einer oder der anderen Epoche der Geschichte befand, sondern mit allem, was einst gewesen, was heute war und was dereinst sein würde. In diesem Augenblick gewahrte er unmittelbar den lauf der Geschichte, die ruhig wie ein breiter Fluss vor ihm hinströmte, und auch sein eigenes Leben, das wie ein Wellchen in dieser unermeßlichen Flut plätscherte. Das erlebnis dauerte lange genug, um die zur Linken zurückweichende edwardianische Ziegelfassade und die weißen Sandsteingesimmse des Bahnhofs visuell zu registrieren und sich halb verblüfft, halb verwundert zu fragen, wie es zugehn mochte, dass diese unsinnnig prossaische Szenerie den physischen Rahmen einer so geistigen Erfahrung abgab. Im nächsten Moment war die Verbindung unterbrochen, und der Träumer fand sich in der alltäglichen Cockney-Welt wieder, die sein gewohntes Milieu war...“
Diese Erinnerungen des großen Historikers Arnold Toynbee gehören zu den anschaulichsten Berichten von Überwindungen der normalen Zeit-Raum Wirklichkeit, einer Art Transkommunikation zu einer Ebene jenseits von Zeit und Raum, die sich in unsere Realität hinein entfaltet. Erwin Schrödinger sagte einmal: „Bewusstsein ist ein Singular, desssen Plural wir nicht kennen“. Man könnte auch sagen: wo Metaphysik zur Erfahrungswissenschaft wird, wird Mystik eine Sache des Wissens. Es existiert anscheinend im Menschen etwas dass die Grenzen der Realität überwinden kann.



Literaturhinweise:
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung.
Diels/Kranz: Fragmente der Vorsokratiker.
Arnold Toynbee: A Study of History.
Mathias Bröckes: Nachrichten aus dem Untergrund des Übernatürlichen.


hukwa