Donnerstag, 20. November 2008

Vernunft- ein transzendenter Ordnungsquell

Vernunft – ein transzendenter Ordnungsquell
Hans Wagner

Wie ein Baum der zwei Wachstumsperioden hat, sollte sich auch der Mensch immer vor Bewusstsein halten, das er ebenfalls zwei Wachstumsperioden durchleben kann. Bäume haben ein Frühjahr und Herbstwachstum, dem Menschen der nach der Ganzheit seines Selbst strebt, ergeht es ebenfalls so.
Die jungen Jahre und das mittlere Alter stehen oft ganz im Bann des animalischen und dem Streben nach ökonomischen Sicherheiten. Setzt nun bei einem Menschen, der sich bewusst ist, das in seiner Psyche eine Art transzendenter Ordnungsquell vorhanden ist, der Herbst des Lebens ein, so wird er sich wohl verstärkt auf eine spirituelle Suche begeben. Der transzendente Ordnungsquell ist ja letztendlich nichts anderes als die menschliche Vernunft. Eine Vernunft allerdings nicht gesehen durch die "vernünftige Brille" unserer Konsum – ökonomisch orientierten Spießer Gesellschaft, sondern Vernunft in ihrem wahren philosophischen Sinne: denn wie der Mensch
ein Über – Selbst besitzt, das sein wahrer Wesenskern ist, so gehört zu diesem Kern, eine Art Über – Vernunft, eine Vernunft also, die den Menschen erst zum Menschen macht. Diese philosophische Vernunft ist es ja die uns vom Schein zum Sein gelangen lässt, vom menschlicher Selbstentfremdung zur inneren Einkehr.
Aristoteles hat dies an einer berühmten Stelle seiner Nikomachischen Ethik (Buch 10, 1177, b31 ) folgt gefasst:
"es solle der Mensch sein Denken nicht auf das nur menschliche und sterbliche, sondern nach Möglichkeit auf das Unsterbliche richten, weil er in der VERNUNFT, im Geist ein Göttliches, Unsterbliches in sich trage, das an Umfang nur gering sei, an Kraft und Wert aber über alles hinausrage und als unser eigenstes wahres Selbst, in dem der Mensch am meisten Mensch sei, ihm auch die höchste Selbstverwirklichung verbürge".
Seit es Philosophie gibt philosophieren die Philosophen über Vernunft. Die philosophische Vernunft ist universell.
Die Vernunft ist nicht irgendwann von irgend woher aufgetaucht, sondern sie ist eine Methode zur Erlangung von Einsicht. Nehmen wir als Beispiel die Französische Revolution, die ja für alle Beteiligten sehr grausam war, dennoch kehrten durch diese Revolution auf Dauer in ganz Europa allmählich wenigstens halbwegs bessere Verhältnisse ein. Also war sie vernünftig. Wir sprechen ja auch von einer vernünftigen Natur des Menschen.
Nikolaus von Kues machte den Verstand (ratio) und die Vernunft (intellectus) zu einer Grundsubstanz seines Werkes.
"Die Vernunft ist die Beschreibung der Entstehung des Verstandes und seiner Gesetze, nicht ein höheres mystisches Organ". Die Vernunft also geht zum Vorausliegenden und Verbindenden zurück. Sie kann es nicht erkennen, wohl aber es als Urbild der Abbilder Bestimmen bzw. die unfassbare Wahrheit der göttlichen Ideen darstellen. Damit weiß sie nicht viel, aber sie weiß, was sie wissen kann und was nicht. Sie ist nach Kues, docta
ignorantia – wissende, bewusste, belehrte Unwissenheit.